Dienstag, 17. April 2012

Paris Marathon - was den perfekten Lauf ausmacht

Zwei Tage ist es jetzt schon wieder her. Ehe die noch frischen Erinnerungen langsam den Weg alles Irdischen gehen, will ich versuchen, meine Eindrücke über dieses Rennen hier festzuhalten. Ich könnte so vieles über diesen Lauf schreiben, ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll und es könnte sein, dass dieser Bericht unstrukturiert daher kommt aufgrund des Versuchs, alle Phasen des Rennens, alle Gefühle, Impressionen und Gedanken in Gänze nieder zu schreiben. Aber fangen wir doch mal chronologisch an und schauen, wohin die Reise geht:

Unser Hotel
Sonntag früh, Hotel du Pré. 5:30 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich höre ihn, obwohl ich aufgrund meiner Ohrenstöpsel so gut wie taub bin. Das Schnarchen meines Vaters neben mir habe ich so kaum wahrgenommen und konnte richtig gut schlafen. Um auf Nummer Sicher zu gehen stumpt mich mein Vater an, als müsste ich in zwei Minuten an der Startlinie stehen. Jaja, ich bin doch wach...

Ich hatte am Abend zuvor alles vorbereitet. Die Koffer waren gepackt, die Laufklamotten rausgelegt, Startnummernband, GPS-Uhr, Kniesehnenbandage, Powergels in Shirt- und Hosentaschen verstaut. Ich machte mich kurz frisch (keine Dusche - was gibt es Unsinnigeres als vor einem Marathon zu duschen?). Dann frühstücken. Tags zuvor habe ich ein Messer aus dem Frühstücksraum mitgehen lassen, um mir mein Wettkampfmenü auf dem Zimmer zubereiten zu können. Es gab weiches Weißbrot mit Aprikosenmarmelade oder Apfel-Bananen-Mark. Leichteste Kost also. Ich schob mir genüsslich fünf Scheiben davon rein und trank dazu einen Liter Wasser. Um 7 Uhr machten wir uns auf den Weg. Die Koffer ließen wir im Hotel, um sie nach dem Rennen dort abzuholen.

Draußen war es ziemlich kalt. 4 Grad zeigte irgendwo ein Thermometer an. Wir fuhren mit der Metro zum Startbereich. Es wurde empfohlen, direkt am Arc de Triomphe auszusteigen, da man nur von oben in seinen Startblock kommen könne. Dieser Hinweis stellte sich aber als Lüge heraus. Oben am Arc de Triomphe gab es zwar ein paar Toiletten, die ich auch nochmals aufsuchte, aber ansonsten hätte man ruhig auch von unten die Champs-Elysées hochlaufen können, was einen viel kürzeren Fußmarsch bedeutete. Na egal, die paar Meter Spaziergang haben mich nicht gestört. Ich war weiterhin in meine Joggingklamotten eingepackt und wollte auch noch nicht aus ihnen raus, denn zu den kalten Temperaturen wehte auch noch ein ziemlich kräftiger Wind. Wir stellten uns noch kurz im Häagen-Dasz unter - dankenswerterweise hatte man hier seine Pforten geöffnet. Gegen ein paar kostenlose Snacks hätte ich zwar auch nichts einzuwenden, aber wahrscheinlich nagt der Laden da am Hungertuch, obwohl eine Kugel Eis dort ca. fünf Euro kostet.




Startnummer... ach was!?
Irgendwann sah ich, wie mein Startblock immer voller wurde, also begab ich mich dann doch mal wieder ins Kalte. Ich gab meine Klamotten meinem Vater und ging in den Käfig, der für die 3-Stunden-Läufer reserviert war. Man kam auch nur da hinein, wenn man einen entsprechenden Aufdruck auf seiner Startnummer hatte (s. Foto). Ich kam mir irgendwie fehl am Platz vor. Ich ein 3-Stunden-Läufer? Als ich mit dem Laufen vor sechs Jahren begann, schaute ich ehrfürchtig zu allen Läufern auf, die überhaupt nur einen Marathon zu Ende laufen konnten und jetzt wollte ich hier in einem solchen Tempo 42km durch die Gegend rennen? Irgendwie surreal. Aber ich hatte ja genau dafür trainiert. Ich fing also an, mich warm zu laufen. Wenn man von Laufen sprechen konnte in diesem kleinen Bereich, ca. 30 Meter im Kreis mit Hunderten anderen Läufern. Aber es ging ganz gut. Nach geschätzten 10 Minuten war mir einigermaßen warm und ich stellte mich zu den anderen Läufern, um auf den Startschuss zu warten. Langsam stieg bei mir dann doch die Aufregung. Es ist ja immer das Spannende bei einem so langen Lauf: Was erwartet einen, wie reagiert der Körper und die Psyche auf diese Belastung und wie bin ich in der Lage, Schwierigkeiten zu begegnen? Ich entledigte mich meines Plastiküberzugs und merkte nochmal, wie kalt es eigentlich war. Naja, besser als zu warm, dachte ich mir. Neben mir lauter hagere Gestalten, ich überragte mit meinen 1,93m alle. Irgendwie war ich hier doch falsch. Neben mir pinkelte ein älterer Läufer in eine Wasserflasche. Praktisch. Hoffentlich verwechselte er sie später nicht mit einem Isogetränk.

Dann fiel endlich der Startschuss! Nach ca. 40 Sekunden konnte ich schon über die Startlinie laufen - so weit vorne bin ich noch nie bei einem großen Marathon gestartet. Die Champs-Elysées kenne ich aus unzähligen Übertragungen der Tour de France. Und jetzt lief ich selbst über dieses Pflaster. Auf der ersten Verkehrsinsel nach dem Start stehen Dutzende Fotografen. Blitzlichter flackern auf, die Zuschauer am Straßenrand stehen in mehreren Reihen und feuern die Läufer an. Das war schon ein richtig geiles Gefühl. Bei Weitem der schönste Start eines Laufs für mich bisher. Vor mir liefen die 3:00std-Pacemaker. Ich sah die ganze Zeit zwei. Sie steckten einen größeren Bereich ab, in dem man wohl laufen sollte, wenn man die 3 Stunden unterbieten wollte. Ich war zunächst gute 50m dahinter. Ich wollte mein eigenes Tempo laufen, aber trotzdem schaute ich natürlich, wie sich die Entfernung zu ihnen veränderte.

Mein Vorhaben war ja gewesen, es langsam angehen zu lassen und vor allen Dingen den Puls nicht zu hoch schnellen zu lassen. Erst langsam, dann hinten raus was starten. Das mit dem Langsammachen klappte gut. 1. Kilometer in 4:30min... Puls: 173! Klasse... Zu hoch! Was sollte ich tun? Ich dachte, langsamer geht ja jetzt erstmal nicht, denn das bin ich ja schon. Es war sicherlich die Aufregung oder meine Uhr sponn schon wieder rum. Ich ärgerte mich nur kurz, denn ich musste ständig aufpassen, in den Kurven nach der Champs-Elysées, als man den Place de la Concorde überquerte (ein ebenso beeindruckendes Erlebnis wie vorher der Start), den anderen Läufern nicht über die Füße zu stolpern. Ich wollte außerdem vermeiden, dass mir jemand auf meinen rechten Fuß latscht. Zwar tat mein Zeh nicht mehr weh, aber einen kräftigen Fuß auf ihm wollte ich dennoch vermeiden. Statt dauernd auf die Uhr zu schauen, versuchte ich, die Atmosphäre des Rennens aufzunehmen. Der Himmel war ziemlich grau, es war fast noch ein wenig düster. Dazu die grellen Lichter, die am Place de la Concorde aufgestellt waren, alles wirkte leicht bizarr. Vor mir lief jemand, der gerade von einem Kameramotorrad begleitet wurde. Die Straßen sind unglaublich breit, man passierte die Tuilerien, lief am Louvre vorbei, dann das Hôtel de Ville. Ich dachte mir, ich müsse diesen Lauf einfach nur genießen: Scheiße, wie geil ist dieses Paris eigentlich? Solche und andere Gedanken machte ich mir. Ich schaute bei km3 auf die Uhr. Die letzten beiden km war ich viel zu schnell gelaufen - 4:05min jeweils. Puls: 177. Immer noch zu hoch. Angst machte sich breit. Kurz darauf kam schon der Place de la Bastille. Menschenmassen. Ein Riesenlärm. Ich kenne das nicht von Marathonläufen, dass so viele Leute sich das anschauen. Und dann noch bei der Kälte. Ich fror nämlich immer noch. Eine Getränkestation. Das Wasser wird hier in kleinen Flaschen gereicht - sehr praktisch. Und am Ende stehen verteilt Mülltonnen, in die man die Flaschen reinwerfen kann. Ich versuche mein Glück und treffe eine Zuschauerin voll mit meiner noch fast vollen Flasche am Bauch... Es tat mir Leid! Andererseits: Warum steht die direkt neben dieser Tonne? Gut, ich konnte nicht zielen, aber ich würde sagen, ihr gehören 50% Mitschuld aufgrund blöder Positionierung.

Jedenfalls war die Atmosphäre dieses ganzen Laufs derart einzigartig, dass ich meine Taktik über Bord warf und Folgendes festlegte: Ich bin hier in Paris. Ich bin hier, weil ich den Marathon unter drei Stunden laufen will. Das habe ich mir vor sechs Monaten vorgenommen. Die Bedingungen sind gut. Die Atmosphäre ist genial. Ich fühle mich gut. Ich habe eine Chance. Und die muss ich versuchen, zu nutzen. Der Puls kann mich am Arsch lecken.

Zum ersten Mal beschließe ich, einen Marathon zu laufen, ohne auf den Puls zu achten. Nur nach Gefühl. Die Topläufer machen das schließlich auch. Ich habe jahrelange Lauferfahrung. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich mich übernehme. Die Zahlen können auch verunsichern. Der Puls ist von verschiedensten Faktoren beeinflusst. Ich bin schon 10km-Läufe mit einem Durchschnittspuls von über 190 gelaufen. Halbmarathons mit Puls 185. Ging alles. Die Zahlen auf der Uhr sind eine Hilfe, an der man sich orientieren kann - aber nicht muss. Ich laufe also jetzt ganz frei. Auf die Zeiten achte ich trotzdem. Mein Ziel sind ja die drei Stunden. Ich beschließe außerdem, die 4:15min/km einzuhalten. Nicht, weil ich meine, ich müsse das tun, sondern weil dieses Tempo genau meinem Wohlfühltempo entspricht. Ich teste es aus, habe einen km mit 4:05min, der mir ein wenig zu schnell vorkommt, mache etwas langsamer: 4:25min/km. Perfekt. Nach gut einer halben Stunde nehme ich das erste Powergel. Die Tatsache, dass ich fünf davon dabei habe, gibt mir noch mehr Sicherheit, gegen Ende nicht einzubrechen. Es ist sozusagen mein Trumpf im Vergleich zu den vorherigen Marathons. Was habe ich mir nur immer dabei gedacht, mit so wenig Verpflegung auf die Strecke zu gehen?

Die Strecke führt jetzt in Richtung Bois de Vincennes, den östlichen Stadtpark. Es geht immer mal wieder leicht bergauf. Ich ziehe recht flott über diese Hügelchen hinweg um auf den Bergabpassagen etwas zu erholen. Immer wieder kommt mir der Gedanke, dass ich eigentlich austreten müsste. Aber dafür ist nun wirklich keine Zeit. Ich hoffe, dass mit der Zeit andere Bedürfnisse Überhand gewinnen - etwa das Bedürfnis, ins Ziel zu kommen. Und so ist es auch. Gegen Ende ist Blasendruck mein geringstes Problem.

Die 10km-Marke erreiche ich in 42:26 - vier Sekunden unterhalb meines vorgenommenen Tempos. Perfekt! Ich kann das Rennen genießen. Ich weiß, dass ich dieses Tempo locker gehen kann. Ich weiß aber auch, dass es gegen Ende sicherlich nicht einfacher wird. Ich bin gespannt, wie lange ich so flott sein kann, ohne mich quälen zu müssen. Da ich keinen Puls sehe, kommt es ganz auf das Empfinden an. Und hierbei ist ja das Tolle, dass man es sich mit der Zeit unheimlich gut einreden kann, dass es einem noch gut geht. Oder geht es einem tatsächlich gut?

Langsam geht es auf die Hälfte zu. Mein zweites Gel habe ich nach einer Stunde zu mir genommen. Nach ca. 18km merke ich meine linke Wade. Ich frage mich warum. Ich habe ihr nichts getan. Die hat sich sonst noch nie gemeldet. Ich versuche, das leichte Ziehen nicht allzu ernst zu nehmen. Es gelingt. Sie meldet sich zwar im Laufe des Rennens immer wieder, aber eigentlich beeinflusst sie mich nicht.

Ich durchquere die Halbmarathonmarke nach 1:29:41std. Ich bin voll auf Kurs. Kurz nach der Hälfte sehe ich auch meinen Vater. Er ist mit der Metro zum Place de la Bastille gefahren, über den man zweimal läuft und feuert mich an, während er gleichzeitig mit der Kamera filmt. Das gibt mir nochmal zusätzlich ein gutes Gefühl.

Auf dem nächsten Kilometer habe ich kurz vergessen, welche Zeit ich einhalten muss. Egal, das Tempo passt im Moment sehr gut. Ich fange ab dem nächsten Kilometer wieder mit dem Rechnen an. Früher hätte ich mich durch einen solchen Fauxpas aus der Bahn werfen lassen aber an diesem Tag sage ich mir einfach, dass ich lange genug laufe und weiß, wie ich zu laufen habe. Ich muss nicht dauernd rumrechnen, es wird schon passen.

Wir laufen jetzt ein sehr langes Stück am Ufer der Seine entlang - den Eiffelturm immer links vorne im Blick. Ihn müssen wir hinter uns lassen, dann kommt die Tennisanlage Roland Garros, der Bois de Boulogne, das Ziel. So ist der Plan. Ich weiß, je näher ich dem Eiffelturm komme, bis er dann meinem Blick entschwindet, umso ernster wird die Geschichte hier. Es geht jetzt immer wieder durch Unterführungen, unter Brücken hindurch. Dazu geht es erst bergab, danach wieder bergauf. So geht das bestimmt fünfmal. Ich will kein Tempo verlieren. Um mich herum werden die Läufer langsam langsamer. Ganz wenige überholen mich aber auch. Ich laufe ein konstantes Tempo. Die 3:00-Pacemaker habe ich immer noch im Blick, einmal überhole ich auch den hinten Laufenden, aber nur, weil dieser gerade am Straßenrand zum Pinkeln anhält. Eine Minute später saust er wieder an mir vorbei.

Ich kann den Blick auf die Seine genießen, den Eiffelturm bestaunen - ein unfassbares Bauwerk. Ab und an rufen französische Zuschauer meinen Namen, mit teilweise sehr interessanter Aussprache: von Yann bis Schahn ist alles dabei (also lautschriftenmäßig). Immer wieder gibt es "Fotozonen", die per Megafon angekündigt werden: Attention!! Zone Photo! Links und rechts am Straßenrand sowie auf einer Verkehrsinsel steht ein Haufen Fotografen und schießt Fotos von den Läufern. Ich versuche, jedesmal nicht allzu angestrengt auszusehen, aber ich weiß nicht, ob mir das bei km28 noch gelingt.

Mittlerweile ist die Sonne kurz rausgekommen. So langsam lässt man den Eiffelturm links liegen. Der Wind bläst mir immer noch entgegen. Nach zwei Stunden nehme ich mein vorletztes Gel zu mir. Ich glaube zu fühlen, wie es wirkt. Und das ist schließlich das Wichtigste. Jetzt passieren wir Roland Garros. Wie ich finde, eine recht popelige Anlage. Ich hatte es mir viel größer vorgestellt, aber wahrscheinlich war ich durch die ganzen anderen Protzbauten nur viel zu große Gebäude gewohnt. Jedenfalls eine weitere prestigeträchtige Sportstätte, die mich daran erinnert, was man doch so alles leisten kann, wenn man nur will.

Mittlerweile bekomme ich aber dann doch ein wenig Angst vor dem Mann mit dem Hammer. Was, wenn mich mein Gefühl getäuscht hat und ich am Ende komplett einbreche? Solche Experimente, einfach mal den Puls zu ignorieren, sind eigentlich nicht mein Ding. Und das auch noch im "wichtigsten" Rennen überhaupt für mich. Aber gut. Einfach machen. Nicht nachdenken. Ich wollte mich nicht mit Problemen auseinander setzen, die noch gar nicht akut waren. Wenn der Mann mit dem Hammer kommt, kommt er. Ich versuchte, diesen Zeitpunkt so lange wie möglich nach hinten zu schieben. Und dann würde schon eine gute Zeit rausspringen. Die Kilometer wurden jetzt subjektiv immer länger: 34, 35, 36... Meine Zeiten waren nicht mehr ganz so, wie ich mir das vorstellte. Zwischen 4:16min und 4:18min/km. Aber alles noch im Rahmen. Ich fing wieder mit der Rechnerei an. Wenn ich es schaffe, diesen Schnitt bis zum Ende zu halten, sollte es möglich sein, mit einem beherzten Schlussspurt noch unter die 3-Stunden-Marke zu kommen. Mir gefiel der Gedanke. Alles rausholen, was geht. Komplett an der Leistungsgrenze zu laufen. Aber ohne einzubrechen. Genau so hoffte ich, würde es funktionieren. Wir waren jetzt im Bois de Boulogne. Es gab hier mehrere Kurven und mir kam zum ersten Mal der Gedanke, dass ich kein Kurvenfan bin. Ich mochte die Sicht auf die Strecke vorher. Man wusste so immer, was kommt. Der Vorteil von Kurven war heute allerdings, dass Hoffnung bestand, den Wind einmal aus einer anderen Richtung als nur frontal ins Gesicht zu spüren. Irgendwie war der Wind aber zu arschig dafür und blies weiter kräftig in die Fresse. Oder von der Seite, was auch nicht hilft. Zumindest war so meine Wahrnehmung. Ich war mittlerweile doch ziemlich angestrengt und hatte Angst bei der nächsten Zwischenzeit feststellen zu müssen, dass ich mein Tempo nicht mehr halten konnte. Die Leute um mich rum waren in dieser Sache keine Hilfe. Viele waren ein ganzes Stück langsamer als ich. Kurzzeitig hatte ich immer wieder Begleiter, die aber entweder zurückfielen oder irre nach vorne spurteten (das war aber die Ausnahme). Der 3:00-Läufer mit der roten Fahne auf dem Rücken war ein Anhaltspunkt. Aber von ihm dachte ich sowieso, er sei viel zu schnell. Er war auch schon ein bisschen weiter weg als noch vor 20 Minuten. Ich verlor also ein wenig Zeit. Aber immer noch nichts dramatisches.

Meine Beine wurden jetzt zunehmend müder. Es waren noch drei Kilometer und 195 Meter zu laufen. Jetzt dachte ich, kommt der Mann mit dem Hammer auch nicht mehr. Und falls doch, hau ich ihm das Ding selbst in die Fresse. Die Erinnerungen sind an dieser Stelle nicht mehr ganz so klar. Ich versuchte auf jeden Fall nochmal an Tempo zuzulegen, rechnete nochmal die Zeit nach, die mir für die letzten 195 Meter blieb, wenn ich einen Schnitt von 4:15min/km halten konnte. Es mussten ungefahr 50 Sekunden gewesen sein - zumindest erinnere ich mich an diese Zahl. Ich hätte lieber eine Minute gehabt, dann wäre ich auf der sicheren Seite gewesen. Die hatte ich auch noch, als ich bei km30 nachrechnete. Aber irgendwo sind mir 10 Sekunden abhanden gekommen...

Die Zuschauer feuerten einen wirklich gut an, riefen "moins de 3 heures! Bravo!" Ja, mal sehen, dachte ich mir. Es ist so verrückt, da macht man Zehntausende Schritte und am Ende kommt es auf jeden einzelnen an. Aber immer ist der nächste Schritt der Allerwichtigste. Kilometer 40. Schnitt gehalten. Jetzt biegt man irgendwann auf eine leicht ansteigende Gerade ein. Neben mir ein Franzose, der laut redet. Wahrscheinlich feuert er einen Mitläufer an. Aber der ist gute 10 Meter hinter ihm. Ich glaube nicht, dass er ihn hört. Ich überhole sie, ziehe nochmal am Tempohebel - oder zumindest glaube ich das. Jetzt auf einmal rechts neben mir ein weiteres Läuferpaar. Eine Frau schreit auf deutsch ihrem Partner entgegen, dass gleich der letzte Kilometer kommt und er die Atmosphäre nochmal aufsaugen und alles geben solle. Ich halte diese Idee für plausibel und denke mir ähnliches. Frage mich gleichzeitig, wie die Frau noch so klug und problemlos daherparlieren kann. Da ist das Schild: km41. Ich gucke auf die Uhr: 5 Minuten vor der 3. Das heißt bei 4:15min//km bleiben mir 45 Sekunden für 195 Meter. Machbar. Jetzt muss ich mir aber auch mal in den Arsch treten. Eine Riesenchance habe ich hier. Die ganze Vorbereitung war doch ziemlich anstrengend, jetzt ist die Zeit, die Möglichkeit wahrzunehmen. Jetzt gilt es. Ich hau mir auf die Brust, feuer mich selbst an, lege einen Zahn zu und ich weiß, dass es klappen wird. Ich kann das Tempo noch erhöhen! Jetzt sehe ich auch nochmal meinen Vater, der mich an der wichtigsten Stelle des Rennens anfeuert. Ich rufe ihm zu, dass es knapp wird, aber bin mir sicher, dass es reicht. Jetzt kommt nochmal ein Kreisverkehr. Ich laufe ganz innen, vor mir wird einer plötzlich langsamer. Ich schiebe ihn kurz vor mir her um nicht zu stolpern und kann dann rechts an ihm vorbeiziehen. Jetzt biege ich auf die Avenue Foch ein. Zielgerade. Der Wind bläst kräftig von der Seite. Es geht leicht bergauf. Scheißegal. Noch 200m. Ein Blick auf die Uhr: 2:59:10. 50 Sekunden für 195 Meter. Ich hau' jetzt alles raus. Das ist mein Moment. Hierfür habe ich im Training echt geackert. So einen Schlussspurt habe ich noch nie hingelegt. Ich stapfe die letzten Meter im gefühlten Affenzahn bis ins Ziel. Eigentlich wollte ich jubeln, aber jetzt ist der Tank leer. Zum richtigen Zeitpunkt! Keinen Meter zu früh. Ich schaue auf die Uhr: 2:59:50! Ich kann nicht mehr tun, als meine Zunge raushängen zu lassen, etwas verkrampft zu lächeln und mich mehr nach innen zu freuen. Ich gehe locker aus, meine Beine fühlen sich überraschend gut an. Man läuft jetzt die Avenue Foch hoch, ich hoffe, was essbares zu bekommen. Es gibt aber nur eklige Bananen, die ich nicht so gut vertrage, Orangenstückchen und Rosinen oder sowas in der Art. Enttäuschend. Kein Croque Monsieur. Kein Crêpes. Kein Baguette. Immerhin Powerade und ein Wasser. Ein gelbes Finishershirt gibt es auch noch. Und ein blaues Regencape, das auch gut vor dem kalten Wind schützt, den ich jetzt wieder spüre. Ich laufe die Avenue bis ganz nach oben durch, finde nichts zu essen, störe mich aber auch nicht weiter dran, gucke mir meine Finishermedaille an und bin überglücklich. Auf die Toilette kann ich jetzt auch endlich. Wäre ich unterwegs pinkeln gewesen, hätte ich es nicht geschafft. Ich hätte keine Sekunde schneller laufen können. Es war das perfekte Rennen. Ich konnte genau das, was ich im Training über Monate vorbereitet hatte, an diesem Tag abrufen und es hat genau gereicht, um mein mir gestecktes Ziel zu erreichen. Und diese Gewissheit ist schon was Tolles. Dazu beigetragen hat mit Sicherheit, dass ich mir keinerlei Gedanken über den Puls gemacht habe. Am Ende hatte ich einen Schnitt von 177. Viel zu hoch eigentlich. Aber es hat ja gepasst.

Endlich die 2 vorne - FUCK YEAH!
Ich bin mit der Gewissheit, alles richtig zu machen gelaufen, habe nicht großartig nachgedacht und bin somit intuitiv genau so schnell gelaufen, wie ich konnte. Und das macht diesen Marathon so besonders für mich. Die Zeit ist was Großartiges, das ist klar. Fast genauso toll ist es aber, seinem Gefühl vertrauen zu können. Jetzt fühle ich mich irgendwie wie ein richtiger Läufer. Einer, der nach Gefühl laufen kann, der sich selbst richtig einschätzen kann - unabhängig von der Technik. Fantastisch.

Jetzt entspanne ich mich erstmal ein wenig. Gelaufen bin ich noch nicht wieder. Die Beine sind natürlich etwas angeschlagen. Aber am Samstag und Sonntag stehen zwei Volksläufe an. Ich werde sie ganz geruhsam laufen. Um dann in drei Wochen hier in Mainz wieder einen rauszuhauen!

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